Im ersten Halbjahr der sechsten Klasse, im November, prügelte sich Paul mit Robert Brown.
»Wie geht’s dem Kretin?«, hatte er Paul an einem bleigrauen Nachmittag zugerufen, als die Klasse sich leerte. Robert war in der fünften Klasse sitzen geblieben. Er konnte keinem Lehrer eine Frage beantworten und er ließ dauernd seine Schulbücher fallen.
Paul hatte mit ihm gerauft, obwohl er auf eine Schlägerei nicht scharf war. Es war, als kämpfte man mit einer Vogelscheuche, Lumpen statt Kleider und Stöcke statt Knochen. Aber mit einem Mal biss ihn Robert ins rechte Ohr und es blutete.
»Ach, Paul!«, rief die Schulschwester aus. »Man darf sich doch nicht prügeln. Trotzdem … es war anständig von dir, so treu zu deinem Bruder zu halten. Du bist so ein guter Bruder.«
Woher wusste sie, dass er einen Bruder hatte? Wusste die ganze Stadt Bescheid? Er sagte sich, dass er von dem Biss bestimmt Tollwut kriegen würde.
»Robert weiß ja gar nicht, was er da sagt«, sagte sie und drückte ihm einen Verband ans Ohr.
Aber Robert wusste das sehr wohl! Und seine Worte bohrten sich wie Glassplitter in Pauls Herz. Das lag vermutlich daran, dass Paul irgendwo in seinem Inneren Robert Brown recht gab. Jacob war ein Kretin.
»Es blutet nicht mehr«, sagte die Schwester.
Er bedankte sich bei ihr und verließ ihr kleines Sprechzimmer. Draußen auf dem Gang lehnte sein Freund George McCormick gemütlich an einem Schließfach.
»Du kriegst jetzt Tollwut«, sagte George grinsend.
»Das weiß ich«, sagte Paul mit einem gequälten Lächeln. Würde das von dem Biss kommen? Oder von Roberts Frage? Es war irgendwie gespenstisch, Georges Bemerkung zu hören, nachdem sich Paul im Sprechzimmer der Schulschwester insgeheim dasselbe gesagt hatte.
Als er am Nachmittag nach Hause kam, gab seine Mutter gerade eine Klavierstunde. Molly, die junge Frau, die Mrs Coleman für Jacobs Betreuung eingestellt hatte, spielte mit ihm im Esszimmer.
Spielen. Was hieß das schon, wenn es um Jacob ging? Grimassen schneiden, dachte Paul. Nur dass Jacob gar nicht erst Grimassen schneiden musste; sein Gesicht war sowieso schon eine verrückte Dauer-grimasse.
Bei diesem Gedanken durchzuckte Paul so etwas wie Scham, und er ging schnell in die Küche, froh darüber, dass keiner da war, der ihn auf den kleinen Verband an seinem Ohr ansprechen konnte. Er wählte Georges Nummer, und als sein Freund abnahm, sagte er »Hallo« und legte sofort wieder auf, wobei er sich vor Lachen kaum noch halten konnte. Bestimmt musste auch George lachen. Paul wartete einen Moment, dann rief er wieder an. Beim ersten Klingeln wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen.
»Worum ging es bei der Schlägerei?«, fragte George.
Paul zögerte. Er hörte George atmen.
»Um meinen Bruder«, sagte er schließlich.
George fragte nicht weiter. Sie kamen auf andere Dinge zu sprechen und unterhielten sich über alles Mögliche: Schule und Hausaufgaben, Lehrer und andere Schüler, die bevorstehenden Ferien und was sie in dieser herrlichen Zeit, wenn die Schule geschlossen war, alles vorhatten.
Danach empfand Paul ein unbestimmtes Unbehagen, so als hätte er etwas weggelegt und wüsste nicht mehr, wo es war. Mit einem Mal überkam ihn Wut auf ein Honigglas, dessen Deckel er nicht aufbekam. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Wieso hatte George ihm nicht mehr Fragen nach der Schlägerei gestellt, die er mit Robert Brown gehabt hatte?
Paul trat ans Spülbecken, drehte den Warmwasserhahn auf und hielt das Honigglas darunter. Kurz darauf konnte er den Deckel abschrauben.
Später sah Paul Robert Brown noch hin und wieder in der Schule. Er war ungeheuer groß geworden und er trottete durch den Gang und ließ sich auf seinen Platz fallen, als wäre er sein eigener Wäschesack. Die anderen Kinder nannten ihn »Schlepper«. Paul und die Prügelei auf dem kalten Boden des Schulhofs hatte er offenbar vergessen.
Als Paul eines Nachmittags an Robert vorbeiging, der mit leerem Gesichtsausdruck an der Wand lehnte, konnte er sich nur mit Mühe die Frage verkneifen: »Wer ist denn jetzt der Kretin?«
Nach der Schlägerei war etwas eingetreten, was Paul vor ein Rätsel stellte, wenn er darüber nachdachte. Er wurde ehrgeizig; er wollte sich hervortun, bei allem gewinnen – beim Fußballspielen, bei Prüfungen und Aufsätzen –, die besten Noten der Klasse bekommen, die besten Noten der ganzen Schule!
Es war, als drehte sich in seinem Inneren ein Rad mit riesiger Geschwindigkeit. Diesem inneren Tempo musste er seine äußeren Handlungen angleichen.
Zuerst war das schwierig, so als kletterte man mühsam einen steilen Berghang hinauf. Er rutschte aus; er strauchelte; fiel manchmal hin. Aber er kletterte immer weiter, bis die Geheimsprachen von Mathematik und Chemie sich ihm erschlossen.
Manchmal wollten seine Eltern seine Aufsätze sehen. »Sehr gut!«, riefen sie dann. Aber was sie sagten, spielte für ihn keine Rolle mehr. Nur die Eins zählte. Der mit Rotstift geschriebene Kommentar des Lehrers zählte: Eine ausgezeichnete Arbeit.
Er wurde Kapitän der Fußballmannschaft. Nur ein einziges Mal wurde er vom Trainer kritisiert. »Hey! Paul!«, sagte er. »Das ist ein Mannschaftsspiel! Du bist nicht der Einzige auf dem Platz.«
Jetzt bedauerte er es, dass er es abgelehnt hatte, sich von seiner Mutter Klavierunterricht geben zu lassen, als er klein war und seine Mutter ihn so gern unterrichtet hätte. Vielleicht hätte er sich auch darin hervorgetan.
Eine Woche vor den Weihnachtsferien gab der Englischlehrer, Mr Stang, der sechsten Klasse einen Aufsatz als Hausaufgabe auf. »Schreibt eure Autobiografie«, sagte er.
Am Nachmittag schloss sich Paul in seinem Zimmer ein, um mit dem Aufsatz anzufangen. Nachdem er einige Minuten lang in der frühen Dunkelheit nachgedacht hatte, knipste er seine Schreibtischlampe an. Er schrieb: Wenn mein Vater samstags in der Tierklinik arbeitet, die ungefähr anderthalb Meilen von zu Hause entfernt ist, spiele ich dort gern im Wald. Mein Vater ist Tierarzt. Im Wald gibt es Bretter und eine alte Steinmauer und allerhand Zeug, das seit der Zeit dort herumliegt, als der Wald als Müllkippe benutzt wurde. Der Wald ist nicht sehr groß, aber es gibt genug Bäume, dass man sich abgeschieden fühlen kann. Letzten Samstag habe ich Bretter und heruntergefallene Äste aufgesammelt und eine Rolle Maschendraht gefunden, mit der sich vielleicht mal etwas anfangen lässt. Es wurde aber zu kalt, deshalb bin ich schon früh gegangen. Wenn es am nächsten Wochenende nicht schneit, bringe ich einen Hammer mit und eine Säge und ein paar Nägel für das Holz.
Ich bin einen Meter vierundvierzig groß. Meine Haare sind braun und meine Augen auch. Ich habe eine Mutter und einen Vater und einen Großvater, der als Einziger von meinen Großeltern noch lebt. Meine Mutter gibt Klavierunterricht. Wenn ich nach der Schule nach Hause komme, ist es dort ziemlich laut. Deshalb bin ich darauf gekommen, mir im Wald ein eigenes Häuschen zu bauen.
Es stimmte nicht, dass es zu Hause laut war.
Mrs Coleman hatte sieben Schülerinnen und Schüler. Die hatte sie im Laufe der letzten sechs Monate bekommen, seit die Familie in Brasston wohnte. Sie benahmen sich alle gut, bis auf einen jungen Mann mit drei Goldringen im linken Ohr. Er hatte einen langen Pferdeschwanz, der schlaff herunterhing und von einem Gummiband gehalten wurde, und er gab mit seinen schnellen Läufen an, brachte aber kein einziges Musikstück zu Ende. Ihm ging es hauptsächlich darum, auf den Tasten wilde Akkorde zu hämmern. Eine andere Schülerin war Mrs Brandy, eine ältere Frau, die unbeirrt und ziemlich falsch ganze Sonaten spielte und dazu ein stolzes Gesicht machte.
Die anderen fünf, die zum Unterricht kamen, waren Kinder verschiedenen Alters. Eins war sogar erst sechs.
Am nächsten Tag wollte Mr Stang, dass Paul nach dem Unterricht noch ein paar Minuten blieb.
»Was du bisher geschrieben hast, gefällt mir gut«, sagte er. »Es ist originell und lebendig. Aber der Aufsatz sollte mehr Einzelheiten über deine Familie enthalten. Was ist mit deinem kleinen Bruder? Ich würde gern ein paar Fotos sehen. Wo bist du zur Welt gekommen? Woher stammt deine Familie? Bei einer Autobiografie geht es schließlich um dein ganzes Leben.«
Woher wusste Mr Stang, dass er einen Bruder hatte? Erst Robert Brown, dann die Schulschwester. Jetzt sprach ihn auch sein Englischlehrer auf Jacob an, wenn er ihn auch nicht mit Namen erwähnte. Die Nachricht von Jacob hatte die Runde gemacht.
Paul bekam es mit der Angst zu tun. Was wäre, wenn Mr Stang Ungenügend quer über das Blatt schrieb, das er so lässig durch die Luft schwenkte?
»Wir alle kommen von irgendwoher«, sagte Mr Stang tiefsinnig und sah dabei an Paul vorbei zum großen Fenster im Klassenraum. »Wir haben alle eine Geschichte.«
Als Paul nach Hause kam, stellte er fest, dass Jacob sich offenbar eine Kicherinfektion zugezogen hatte, so wie andere Leute sich eine Erkältung zuziehen. Während des gesamten Abendessens und auch noch danach war das Haus von diesem Kichern erfüllt, ein Geräusch wie ein kleiner Bach, der über Kieselsteine fließt.
Dr. Coleman hatte Jacob aus der Tierklinik ein verwaistes schwarzes Kätzchen mitgebracht.
Jacob legte sich auf den Teppich im Wohnzimmer. Das Kätzchen sprang ihm auf den Rücken und langte mit den Pfoten in seine Lumpenpuppenhaare. Jacob lachte so, dass er den Kopf nicht mehr hochhalten konnte. Dr. Coleman und Mrs Coleman lächelten ihm zu. Als Jacob dem Kätzchen sein Gesicht zuwandte und es zu küssen versuchte, fielen sie sich plötzlich in die Arme, als hätten sie gerade entdeckt, wie sehr sie einander liebten.
Paul hatte den Tisch abgeräumt. Jetzt blieb er an der Esszimmertür stehen und beobachtete seine Familie. Er kam sich hilflos vor. Konnte nicht sprechen. War nicht in der Lage, den anderen seine Anwesenheit anzuzeigen. Er war unsichtbar geworden.
Seit Jacobs Geburt hatte es noch mehr Augenblicke dieser Art gegeben. Augenblicke, in denen Paul sich ausgelöscht fühlte, weggewischt wie ein Kreidejunge von der Tafel.
Jacob war einfach so, wie er war. Bei ihm gab es keinen Unterschied zwischen seinem Inneren und seinem Äußeren. Wenn er rülpste, sahen Mom und Daddy ihn besorgt an. Wenn er weinte, flogen sie zu ihm hin, wie Schwalben in der Dämmerung zu den Traufen der Häuser fliegen.
»Du musst deinem Kätzchen einen Namen geben«, sagte Daddy zu Jacob. Das Kätzchen zappelte und entwand sich Jacobs unbeholfenem Griff. Es hüpfte durch das Wohnzimmer, wobei die Pfoten in schneller Folge den Boden berührten wie lauter Stakkato-Klänge auf dem Klavier.
Jacob rief: »Ach, Kater!«
Paul machte sich auf den Weg durchs Wohnzimmer, zur Treppe hin. Dabei spitzte er bereits die Lippen, um zu sagen, dass er Schularbeiten machen musste – falls sie ihn fragen sollten, wo er hinwollte.
»Er heißt Paul!«, verkündete Jacob.
»Nein!«, rief Paul aus.
Er konnte Jacob nicht ansehen. Er wusste genau, was für ein niedergeschmettertes Gesicht Jacob jetzt machte.
»Vielleicht können wir uns einen anderen Namen für das Kätzchen ausdenken, Jacob-Schatz«, sagte seine Mutter. »Woher soll Paul denn sonst wissen, dass wir nicht ihn rufen?«
Sie lachte, aber Paul konnte erkennen, dass es ein künstliches Lachen war.
Jacob schien Pauls Nein jedoch gar nicht gehört zu haben. »Ich nenne ihn Jack!«, rief er aufgeregt. »Wie in der Geschichte von Jack und den Bohnenstangen!«
»Wunderbar«, sagte Mom.
»Großartig«, sagte Daddy.
Paul floh die Treppe hinauf und ging in sein Zimmer. Es war schon schlimm genug, dass Jacob dem Kätzchen den Namen Paul hatte geben wollen. Und dann noch dieses vorgetäuschte Lachen seiner Mutter!
Und auch Moms »wunderbar« und Daddys »großartig« waren erzwungene Kommentare, mit denen sie die Wahrheit vertuschten. Sie waren erleichtert, das war alles. Bei Jacob war eine Krise vermieden worden. Keine Szene, keine Tränen.
Mit einem Mal fiel Paul auf, dass sie von Mrs Brandy genauso sprachen. Oh – sie ist so schön! So musikalisch! Sie gibt sich solche Mühe, obwohl sie doch Arthritis hat!
Aber er hatte die Flecken bemerkt, mit denen ihre Hände übersät waren. Er hatte die Falten um ihre Augen und den Mund gesehen. Ihr gingen die Haare aus. Sie wurde kahl!
Wie sie Jacob für die normalsten Sachen mit Lob überschütteten!
Paul fegte mehrere Bücher von seinem Schreibtisch und empfand eine vage Freude, als sie auf den Boden knallten. Niemand würde angerannt kommen, um nachzusehen, ob er gestürzt war.
Ein Gefühl von Verlassenheit überkam ihn; das war wie diese lustlose Stimmung, in die er an kalten Sonntagen verfiel, wenn eisiger Regen herabrauschte und er am Fenster stand und nach draußen starrte.
Er musste seine Autobiografie neu schreiben. Er schrieb: Die Familie meines Vaters kam vor hundert Jahren aus Nordirland. Die Vorfahren meiner Mutter hatten sich schon viel früher hier niedergelassen. Sie waren Schweden – oder Polen. Ich wurde im Beth Israel Hospital in New York geboren.
Sie hatten ihn im Taxi nach Hause gebracht. Er war im September zur Welt gekommen. Seine Mutter hatte sich keine Sorgen um ihn gemacht, weil er, wie sie sagte, ein rundum perfektes Baby gewesen war.
Er fügte dem, was er geschrieben hatte, noch ein paar weitere Sätze hinzu.
Jacob, mein Bruder, hat das Downsyndrom. Weil die Spalte an seinen Augenlidern schräg ist, sieht er irgendwie asiatisch aus. Er hat winzige Zähne und auch die Finger an seiner Hand sind klein. Ende April wird er sieben.
Paul legte eine Pause ein und starrte zur Decke hoch. Er malte sich aus, dass dort ein großes, tropfenförmiges Herz zu sehen wäre. Und darin stand sein Name und der seines Bruders.
Jacob war schöner. Das klang nach einer Eiche oder einem Löwen. Sein eigener Name war dagegen blass und wässrig.
»Ich bin der Löwe«, sagte er laut.
Er las durch, was er bisher geschrieben hatte. Dann fügte er noch einen Satz hinzu, den er vor Kurzem einmal gehört hatte. Wir haben nicht viel gemeinsam.